7. Werkleitz Biennale Happy Believers
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Katalogtexte

Anke Hoffmann:
Glaubenssysteme zwischen Medien, Markt und Menschen

Solvej Helweg Ovesen:
Der Thron bleibt leer

Angelika Richter:
Von Ikonen, Idolen, Avataren und anderen Stellvertretern

Jan Schuijren:
Spuren des Nächsten



Spuren des Nächsten
Jan Schuijren, Angela Plohman

Wir alle suchen nach diesen singulären Momenten der Zugehörigkeit und Anerkennung, diesen Momenten, die die reinsten Teile von uns bekräftigen und intensiv das ausdrücken, um dessen äußerliche Artikulation durch Sprache oder Gesten wir oft ringen. Diese Momente der Offenheit intensivieren die einzigartige Wahrnehmung unseres Selbst und erden uns in einer Gesellschaft, in der wir immer anonymer und losgelöster werden. Doch sehnen wir uns zur gleichen Zeit, da wir unsere Individualität bekräftigen wollen, nach einem gemeinschaftlichen Verständnis dieser Singularität und einer Bestätigung unseres Glaubens an die Welt und unsere Rolle darin. Die Schwierigkeit liegt im Zusammentreffen dieser beiden Erfahrungszonen; im komplexen Zusammenspiel von innen und außen, und in der Art und Weise, in der wir dies leben und ausdrücken.

Der Philosoph Brian Massumi unterstreicht ein ethisches (im Gegensatz zu einem theologischen) Statement über Glauben in Beziehung zu Intensität und Affekt, vor allem inspiriert von einer Formulierung von Deleuze: „Was wir brauchen, ist einen Weg zu finden, wieder ‚an die Welt zu glauben’.“1 Für Massumi ist dies direkt mit der Intensität, mit der wir unser Leben leben, und mit der echten Auseinandersetzung mit unseren täglichen Handlungen, Ereignissen und Erfahrungen, die die Essenz unserer Existenz bilden, verbunden. „Was das besagt ist, dass wir unsere Vertiefung in die Welt leben müssen, unsere Zugehörigkeit zu dieser Welt wirklich erfahren, was dasselbe ist wie zueinander gehören, und dies so intensiv gemeinsam leben, dass es keinen Platz dafür gibt, dessen Realität anzuzweifeln. Die Idee ist, dass gelebte Intensität selbstbestätigend ist. Sie braucht keinen Gott oder Richter oder Staatspräsidenten, um ihr zu sagen, dass sie einen Wert hat.“ 2‚Glücklich Glauben’ ist also verbunden mit dem Wert, dem wir unserer Existenz in der Welt und der Intensität, mit der wir sie leben beimessen. Die Arbeiten in der Ausstellung konfrontieren uns mit unseren Kämpfen, diese Intensität zu finden und auszudrücken, spielen aber auch eine bestätigende Rolle bei der Erkennung der Tiefe unserer Erfahrungen, und gewähren uns Raum und Zeit diese zu bedenken und zu reflektieren.

Wir testen ständig unsere eigenen Grenzen aus, um die körperlichen, mentalen und emotionalen Beziehungen mit der Welt um uns herum zu konkretisieren und zu verhandeln. Wild Seeds der israelischen Künstlerin Yael Bartana untersucht dieses Experimentieren durch die Augen und Körper von Jugendlichen, die ihr eigenes Spiel auf der Grundlage einer echten Auseinandersetzung zwischen israelischen Soldaten und jüdischen Siedlern erfunden haben. Bartana hat dieses Spiel gefilmt, bei dem eine Gruppe Achtzehnjähriger (von denen einige kurz vor der Einberufung in die Armee stehen), Arme, Beine und Körper ineinander verschränken, während zwei andere die Rolle von Soldaten spielen, die versuchen, die Kette zu durchbrechen. Auf einem Bildschirm sehen wir das Spiel, hören das Gelächter und sehen das körperliche Ringen. Auf einem anderen Bildschirm werden die Worte der Jugendlichen (auf Englisch) transkribiert, die den Wechsel zwischen Spiel und Aggression vermitteln. Durch diesen faszinierenden Moment der Gemeinschaft erhalten die jungen Leute Kraft, sie klammern sich im wahrsten Sinne des Wortes aneinander und drücken instinktive Reaktionen auf die mit dem Spiel assoziierte Wirklichkeit aus. Während die Macht der spezifischen politischen Hintergründe des Spiels nicht ignoriert werden kann, bekommt man doch hier vor allem einen starken Eindruck des allgemeineren Potentials des Spielens, da es einen Raum für die intensive Erfahrung und den Ausdruck von Beziehungen öffnet, für deren Verhandlung die jungen Erwachsenen sonst womöglich keinen Freiraum gehabt hätten.

Die Komplexität und manchmal frustrierende Vieldeutigkeit unserer Beziehungen zur Welt um uns herum werden in den Arbeiten von Kuang-Yu Tsui illustriert, einem taiwanesischen Künstler, der sich mit dem Kampf, sich einzupassen und ernsthaft mit der Situation und den bedeutsamen Requisiten des alltäglichen Lebens zu interagieren, auseinandersetzt. In seiner Serie Eighteen Copper Guardians in Shao-Lin Temple and Penetration werden wir mit Tsuis diversen Versuchen konfrontiert, seinen Körper gewaltsam in die Gesellschaft zu integrieren. In The Perceptive übernimmt Tsui die Aufgabe, die verschiedenen Dinge, die ihm an den Kopf geworfen werden, zu identifizieren und verbal zu benennen. Während er von Töpfen, Handschuhen, einem Fernseher, Büchern, einem Staubsauger, Weinflaschen und anderem Kram getroffen wird, verringert sich seine begrenzte Fähigkeit, die Objekte zu benennen, und ihm bleibt schließlich nur ein hilfloses aber festes „ich weiß nicht“. Je mehr auf ihn geworfen wird, desto weniger kann er identifizieren. In The Penetrative sehen wir, wie sich Tsui absurderweise kopfüber in eine Reihe von gewöhnlichen Gegenständen und Situationen stürzt, die Palette reicht von einem Fernseher bis zu einer Kuh auf einer Weide. Der offensichtliche Schock und Schmerz dieser Handlungen zeigt beispielhaft sowohl die Prägung als auch die Wirkung der Welt auf unsere Körper, und unseren Kampf, den begrifflichen Abstand zwischen unserer inneren und äußerlichen Existenz zu verringern. Der schließliche Akt des Sich-Erbrechens in unterschiedlichen Umgebungen in The Spontaneous reagiert auf diese Grenzen und gipfelt darin, dass der Künstler Spuren aus seinem Innersten in der Welt um ihn herum hinterlässt.

Unser innerer Kampf, uns sinnvoll mit der Welt um uns herum auseinanderzusetzen und Spuren zu hinterlassen, wie er in Tsuis Arbeit zu sehen ist, kommt von dem schwierigen Verhältnis mit unserem eigenen, wahren Selbst, oder dem reinsten Kern unseres Seins, der für die meisten Menschen, mit denen wir in Verbindung treten oder umgehen, weitgehend unsichtbar und unübersetzbar bleibt. Goh Idetas überwältigend erhabene Struktur insideout ist eine Darstellung dieser dichotomen Beziehung zwischen dem, von dem wir wissen, dass es die reinste Selbstwahrnehmung ist, und dem, was auf uns projiziert wird, auf eine Art auf uns geschichtet wird, die einen oberflächlichen aber lesbaren Eindruck unseres individuellen Ichs konstruiert. Die Schönheit von Idetas akribischer Holzkonstruktion liegt in ihrer Transparenz, in der klaren Ansicht des Kerns, von dem Licht ausstrahlt und einen Schatten auf die Wände des Raums wirft und so eine weitere Schicht bildet, die wir sehen, aber auch durchdringen können. In dem Moment, in dem wir Idetas Installation erleben, wenn wir die Stärke des Inneren sehen und uns die Zerbrechlichkeit und Komplexität der äußeren Schichten eingestehen, die dieses Innere normalerweise verdecken würden, erfahren wir einen stillen Trost.

Was hinter diesen Schichten liegt, wird oft (manchmal ist es nicht anders möglich) durch eine strikte schwarz-weiß Linse interpretiert. Wir können vermitteln, dass wir glücklich oder enttäuscht sind, aber die wirklichen Gründe dafür, einschließlich der Schichten der Erinnerung und Erfahrung, die das ,Warum‘ beeinflussen, sind nur mit ausführlichen und oft unmöglichen Erklärungen begreifbar. Mike Marshalls minimalistische Videoarbeit Exploring a Small Canyon vermittelt die Komplexität der einfachsten Konzepte, mit denen wir regelmäßig und unmerklich umgehen müssen. In einer kleinen Schlucht ruft der Künstler „Yes“, was als erwartetes Echo zurückkommt. Nach einer Weile wird das „Yes“ mit einem „No“ beantwortet, und die beiden Worte verflechten sich ineinander. Dasselbe passiert mit „Hello“ und „Goodbye“, und bevor es uns klar wird, befinden sich diese einfachen Konzepte in einem komplexen Kampf, der normalerweise versteckt wäre, den wir aber alle als gewöhnliche Ereignisse in unseren alltäglichen Denkprozessen erkennen. Die Intensität der einfachsten Entscheidungen, die wir treffen, wird oft als selbstverständlich angenommen, und Marshalls Arbeit befreit diese Prozesse buchstäblich und zeigt die begrenzte Macht der Sprache bei unseren hehren Versuchen, uns anderen mitzuteilen.

Aber wie Massumi sagt: „Es gibt Anwendungen der Sprache, die die fehlende Übereinstimmung zwischen Sprache und Erfahrung auf eine Art in den Vordergrund rücken, die das ‚Zuviel‘ der Situation – ihre Aufladung – vermitteln können, und zwar so, dass tatsächlich neue Erfahrungen ermöglicht werden.“3 Der belgische Künstler Tom Hillewaere zeigt diesen einmaligen Versuch auf die zarteste Weise in seiner Installation Valse Sentimentale. Zur bewegenden Musik von Tschaikowskys Valse Sentimentale, gespielt von Clare Rockmore auf dem Theremin, schwebt ein weißer Ballon, an dem ein einfacher schwarzer Filzstift mit einer Schnur befestigt ist. Umgeben von Ventilatoren, schwingt der Ballon leicht über einer großen weißen Oberfläche, auf die er einfache Linien zeichnet, während er den Raum durchquert. Während wir den Bewegungen des Ballons zuschauen, werden wir uns schnell bewusst, dass wir etwas in seine stille Kommunikation auf Papier investieren, und der Ballon wird schnell personifiziert, während wir auf seinen nächsten Strich mit dem Filzstift warten. Dieser poetische Ausdruck, eine der Formen der Sprache, die Massumi als potentiell transformativ beschreibt, hinterlässt Spuren der Existenz, diese kleinen Zeichen unserer persönlichen Überzeugungen, die wunderschöne Markierungen unserer Auseinandersetzung mit der Welt sein können. In diesem Fall zeichnet uns die Freude, die wir empfinden, wenn wir etwas sehen, das von der persönlichen Erfahrung eines Menschen oder einer Sache zurückbleibt, und geht über den introspektiven, distanzierten Ansatz des ästhetischen Moments hinaus.

Unsere persönlichen Erzählungen sind aus den Momenten gebaut, die uns bewegen, und den Erinnerungen, die wir dank der Intensität der Erfahrungen in uns tragen. Affekt, also Emotion oder Stimmung, verbindet uns mit anderen Menschen und anderen Orten. Er erhöht unser Zugehörigkeitsgefühl. In etwas zu investieren, an einen Moment zu glauben, wie kurz er auch sein mag, und die nachhaltigen Auswirkungen dieses Moments, bilden den Kern unserer Glaubenssysteme und beeinflussen das Potential aller späteren Momente unseres Lebens. Und wie Massumi meint: „Vielleicht, wenn wir kleine, praktische, experimentelle, strategische Maßnahmen ergreifen, um unser emotionales Register zu erweitern oder unser Denken geschmeidiger zu machen, können wir bei jedem Schritt auf mehr von unserem Potential zugreifen, mehr davon tatsächlich zur Verfügung haben. Mehr Potential zur Verfügung zu haben, intensiviert unser Leben.“4 Und diese entscheidenden Fälle des intensiven Erlebens einer Erfahrung verpflichten uns dem Moment, bestätigen ein Gefühl der Zugehörigkeit in der Gegenwart und ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit dem Potential des Nächsten.

Übersetzung aus dem englischen Original.

1 Mary Zournazi, Navigating Movements: An Interview with Brian Massumi , 2003,
21 C Magazine. Abgerufen am 8. Juni 2006, aus www.21cmagazine.com/issue2/massumi.html
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2 Ebd.
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3 Ebd.
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4 Ebd.
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Dan Perjovschi

Meine Zeichnungen sehen spontan aus, sind es aber nicht.
Für jedes Projekt zeichne ich zwei bis drei Skizzenbücher voll. In jedem Skizzenbuch sind 150 Zeichnungen. Von diesen 150 wähle ich 30 aus, die auf die Wand projiziert werden. Von den 60 neuen Zeichnungen kommen 5 ins Repertoire. Die Zeichnungen im Repertoire sind universell. Jeder wird sie verstehen, mögen und sich darauf berufen. Ich zeichne sie für neue Situationen ab. Neue Zeichnungen abzeichnen. Manchmal stellen sie die größte Gruppe dar (wenn die Situation keine Herausforderung ist, ich keine Zeit habe oder einfach zu faul bin). Bei anderen Gelegenheiten bilden sie die Struktur für neu dazukommende Bilder. Die Zeichnungen im Repertoire sind mein harter Kern. Der Rest wird verschwinden, genau wie die Geschichten, die sie hervorbringen. Manche der Zeichnungen, die ich gemacht habe, verstehe ich jetzt nicht mehr. Ich habe das Thema vergessen, die Namen, ich weiß nicht worum's darin überhaupt geht.
Eine neue Ausstellung bringt 20 Prozent der nächsten Ausstellung hervor, und so weiter. Schwarzer Filzstift, weiße Kreide, dünner Bleistift, Fußboden, Wände, Decken, Fenster, Zeitungen … Ich bewege meine Zeichnungen immer von einem Kontext zu einem anderen. Dieselben Bilder, anderes Publikum. Hier entsteht eine neue Wandzeichnung, dort wird eine andere wiederholt. Lyon fängt an, Paris ist vorbei. Goodbye Lissabon, Willkommen Santiago de Chile. Das Repertoire ist vage und virtuell. Neue Zeichnungen kommen rein, alte verschwinden. Eine Art Vokabular der Erinnerung.
Wenn ich mich erinnere, spreche ich.
Dan Perjovschi
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